“Babys merken sich, was für andere wichtig ist” – Prof. Charlotte Grosse Wiesmann über frühes Lernen, Gedächtnis und neue Perspektiven auf KI

Prof. Dr. Charlotte Grosse Wiesmann erforscht an der UTN, wie Babys lernen und wie sich ihr Gedächtnis entwickelt. In einer aktuellen Studie („The self-reference memory bias is preceded by an other-reference bias in infancy“, Nature Communications, 2025) konnte ihr Team zeigen: Schon im ersten Lebensjahr prägt das soziale Umfeld entscheidend, woran sich Kinder erinnern – zunächst steht das im Vordergrund, was für andere bedeutsam ist. Im Gespräch erklärt die Professorin, wie sie auf dieses Thema kam, wie man überhaupt mit Babys forschen kann und warum ihre Erkenntnisse nicht nur die Entwicklungspsychologie, sondern auch die Künstliche Intelligenz inspirieren.

Frau Professorin Grosse Wiesmann, was hat Sie persönlich dazu gebracht, sich mit dem Lernen und Gedächtnis von Babys zu beschäftigen?

Ich habe mich ursprünglich mit sozialer Kognition beschäftigt, also damit, wie Kinder lernen, die Perspektive anderer einzunehmen. Dabei fiel mir auf: Schon sehr kleine Kinder lassen sich in ihrem Verhalten und Gedächtnis stark von anderen beeinflussen. Obwohl sie noch nicht klar verstehen, dass andere Menschen eine andere Sichtweise haben, prägen deren Reaktionen schon, was Kinder sich merken. Dieses Phänomen hat mich zum Gedächtnisthema geführt.

Was genau wollten Sie in ihrer Studie über das Gedächtnis von Babys herausfinden?

Wir wollten wissen, wann Kinder anfangen, zwischen dem zu unterscheiden, was für andere wichtig ist, und dem, was für sie selbst bedeutsam ist. Überraschend zeigte sich: Im ersten Lebensjahr erinnern sich Babys vor allem an Dinge, die für andere wichtig sind. Erst mit etwa anderthalb Jahren – wenn sich ein erstes Selbstkonzept entwickelt – verschiebt sich der Fokus stärker auf das, was für sie selbst relevant ist.

Was sagt das über die Rolle von Beziehungen und dem sozialen Umfeld in den ersten Lebensjahren aus?

Unsere Ergebnisse machen deutlich, wie grundlegend andere Menschen für die Entwicklung von Babys sind. Sie können anfangs noch nicht strukturieren, was in ihrer komplexen Umwelt wichtig ist – dafür brauchen sie Bezugspersonen. Diese Interaktionen helfen ihnen, Bedeutung in die Flut von Eindrücken zu bringen und zu priorisieren, was sie lernen und woran sie sich erinnern.

Wie kann man überhaupt mit Babys Studien durchführen?

Wir haben eigens neuartige Spielzeuge gebastelt, die Kinder vorher nie gesehen hatten. Diese Objekte wurden den Babys entweder „für sie selbst“ oder „für eine andere Person“, eine Puppe namens Sven, zugeordnet. Später testeten wir, ob sie sich an die Objekte erinnern. Das ging über das Blickverhalten der Kinder, das wir mit Eye-Tracking erfasst haben. So konnten wir erkennen, welche Gegenstände die Kinder wiedererkennen und welche nicht.

Was war das überraschendste Ergebnis?

Dass Babys sich im ersten Jahr vor allem merken, was für andere wichtig ist. An Dinge, die für sie selbst bestimmt waren, konnten sie sich nicht erinnern. Erst später, parallel zur Entwicklung des Selbstkonzepts, erinnern sich Kinder zunehmend an selbstrelevante Erfahrungen.

Sie betonen, dass wir aus kindlichem Lernen auch etwas für Künstliche Intelligenz lernen können. Was fasziniert Sie daran am meisten?

Babys lernen extrem schnell – aber nicht allein. Andere Menschen helfen ihnen, Objekte in ihrer Umwelt zu identifizieren und Bedeutungen zuzuordnen. Dadurch wird ihre Aufmerksamkeit gelenkt und sie lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Genau das fehlt Künstlicher Intelligenz bisher: Sie verarbeitet riesige Datenmengen, aber ohne soziale Lenkung durch eine Bezugsperson. Wenn wir verstehen, wie Babys diese „Aufmerksamkeitsfilter“ nutzen, können wir auch Maschinen beibringen, effizienter und menschenähnlicher zu lernen.

Sie sind seit letztem Jahr an der UTN. Welche Forschungsthemen möchten Sie hier weiterverfolgen?

Mich interessiert besonders, wie Babys so schnell komplexe Kategorien entwickeln und wie sich ihre soziale Kognition ausprägt. Gleichzeitig arbeite ich interdisziplinär, etwa mit Kolleginnen und Kollegen aus der Informatik oder Philosophie, um zu untersuchen, wie kindliches Lernen neue Ansätze für Künstliche Intelligenz und Robotik liefern kann.

Was können Studierende, die sich für dieses Thema interessieren, bei Ihnen erwarten?

Im Wintersemester 2025/2026 starte ich mit einer ersten Lehrveranstaltung, die in die empirische Forschung einführt. Studierende sollen dort auch eigene kleine Experimente entwickeln. Später wird es vertiefende Seminare zur sozialen Kognition und zum Lernen geben. Außerdem können Studierende Praktika in meiner Forschungsgruppe machen oder Abschlussarbeiten schreiben. Es gibt auch spannende Möglichkeiten für Promotionen und Postdocs.

Die Forschung von Prof. Charlotte Grosse Wiesmann zeigt: Schon im ersten Lebensjahr ist Lernen ein zutiefst soziales Geschehen. Babys erinnern sich nicht zufällig, sondern richten ihre Aufmerksamkeit zunächst daran aus, was andere wichtig finden. Erst später rückt das eigene Selbst in den Mittelpunkt. Dieses feine Zusammenspiel von Beziehung und Gedächtnis unterstreicht, wie zentral soziale Bindungen für die Entwicklung sind – und liefert zugleich Inspiration für die Künstliche Intelligenz. Denn vielleicht werden Maschinen eines Tages ähnlich wie Kinder lernen: nicht allein durch Datenmassen, sondern durch kluge soziale Führung. 

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